10 Läufer, 250 Kilometer und ein grosses Abenteuer

In Amerika längst Kult, fand kürzlich erstmals eine Ragnar Relay auf dem europäischen Festland statt: 250 Kilometer entlang der Elbe, von Hamburg nach St. Peter Ording. Ein Team von zehn Läufern teilt sich dabei die Distanz in Teilabschnitten auf, wobei jeder in einer festen Reihenfolge drei Etappen zurücklegt. Wer nicht läuft, ist in einem der beiden Teamautos unterwegs zum nächsten Wechsel. Gelaufen wird rund um die Uhr, wobei die Mannschaften ihre Verpflegung selbst organisieren – genauso wie das Schlafmanagement. Gesammelt werden dabei Eindrücke, die persönlicher nicht sein können:

Auch im Ausnahmezustand im Team funktionieren

Pia Wertheimer
Pia Wertheimer, 43, Marathonläuferin, Schweiz

11, 5 und 10 Kilometer standen für mich auf dem Programm. Das Ganze klang harmlos – und ich liess mich täuschen. Der Staffellauf entpuppte sich als ein regelrechtes Abenteuer. Die Art Abenteuer, bei dem man sich immer wieder fragt: Warum tue ich mir das an? Und sich genauso oft dafür verflucht. Eines, das ich seither um nichts in der Welt missen möchte. Eines, bei dem Routiniers gemeinsam mit Rookies an den Start können. Eines, dank dem ich neue Landschaften kennen lernte.Denn: Wo in der Schweiz kann ein Läufer Kilometer um Kilometer auf einem Deich zurücklegen, beobachtet von zahllosen Schafen, tagsüber begleitet von Möwen und in der Nacht beschattet vom Vollmond? Eines, das mich innert 25 Stunden (so lange dauerte der Spass für uns) nicht nur als Läuferin forderte, sondern auch als Mensch – und als Teammitglied.

Die Ragnar Relay war deshalb auch ein Abenteuer,

Kilometer um Kilometer auf dem Deich

 bei dem ich mich selbst besser kennenlernte. Denn meine Marathons brachten mich zwar an meine Grenzen, doch bei keinem ging es darum in diesem Zustand in einem Team zu funktionieren. Und das, war für mich die grösste Herausforderung des Ragnar Relays – zumal sich nicht alle Teammitglieder vorher kannten. Es ging darum an einem Strick zu ziehen, auch wenn die Nerven mit der Zeit der Müdigkeit wegen blank lagen. Der Anlass erfordert nämlich gute logistische Planung – er artet sonst in Chaos aus; vernünftige Berechnungen der Laufzeiten, nur so funktionieren die Wechsel reibungslos; Navigationsgeschick, damit die nächsten Läufer auch zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort bereit stehen sowie eine zünftige Portion Durchhaltevermögen, denn die wenigen Schlafstunden – zusammengeknautscht in einem Van mit vier anderen Teammitgliedern – reichen bei weitem nicht aus, um die Batterien jeweils wieder aufzuladen.

Es war interessant zu beobachten, wie jeder Läufer seine zwischenmenschliche Rolle übernahm: Es gab die Planer im Hintergrund, die Partymacher, die Fahrer, die Alphatierchen sowie die “Knautscher”. So nenne ich Menschen, die durch ihre Gelassenheit auf sich anbahnende Konflikte deeskalierend wirken. Dank dieser intuitiven Rollenverteilung fielen wir uns im Ziel in St. Peter Ording lachend in die Arme – und nicht weil jeder von uns seine Kilometer abgespult hatte. Dieses euphorische Wir-Gefühl war mein Lohn für die Strapazen von zwei Nachtetappen, bei denen mein Körper eigentlich nur eines wollte: Schlafen. Diese Verbindung ist auch Wochen nach dem Anlass noch spürbar – und lässt uns bereits die nächste Ragnar Relay planen.

Wenn man die Stärken der Einzelnen vereint

Pascal Boutreau
Pascal Boutreau, 49, Ironman und Marathons, Frankreich

Für gewöhnlich ist Laufen ein Einzelsport, im Training als auch bei den Wettkämpfen. Die Ragnar Relay zeigt eindrücklich, dass es auch anders sein kann. Sie macht Laufen zum Mannschaftssport mitsamt dem Teamgeist, ohne den keine Gruppe zur Mannschaft wird. Der Wettkampf hatt für mich etwas symbolisches: Er zeigte, dass gewisse Leistungen nur vollbracht werden können, wenn man die Stärken von verschiedenen Menschen zusammenbringt – und das gilt nicht nur für den Sport.

Wechselhaftes Wetter am WattenmeerWind, strömender Regen und Dunkelheit – ja, es gab schwierige Momente. Doch die Antwort auf die Frage “weshalb bin ich hier?” liess nicht lange auf sich warten: Der Lauf in den Sonnenaufgang liess die nächtlichen Strapazen vergessen. Und als ein Regenbogen sich über die Wattlandschaft erstreckte, war es, als würde sich der Wettergott mit uns versöhnen und uns den Weg weisen. Das Lächeln der Teammitglieder bei der Stabübergabe und spätestens der Anblick der Schlussläuferin, die mit ausgestreckten Armen der Mannschaft entgegen spurtet, machte die nagende Frage nach dem “weshalb?” obsolet.

Freiheitsgefühl pur!

Sarah Bieri
Sarah, 38, Mitteldistanzlerin, Schweiz

Wie ich dazu gekommen bin, an einem so durchgeknallten Event wie dem Rebook Ragnar Wattenmeer teilzunehmen? Diese Frage habe ich mir ein paar Mal gestellt, nicht nur unter Schlafentzug beim Lauf selbst, sondern auch schon im Vorfeld. Was hat mich dazu bewogen, mich einer Gruppe aus wild zusammengewürfelter Leute anzuschliessen, von denen ich gerade mal jemanden flüchtig gekannt hatte? Zum Einen war da sicher die unbändige Lust zu Laufen, mein gewisser Hang zum Extremen und die Freude daran, neue Kontakte zu knüpfen. Schliesslich muss man schon gewillt sein, sich aus seiner üblichen «comfort zone» herauszubewegen, wenn man sich für einen solchen Event anmeldet.

Das Erlebnis war rückblickend einfach nur grossartig: Die Nervosität und die Ungewissheit in den Tagen davor, der Teamspirit und die Kulisse in der wir uns während dem Lauf bewegt haben. Das Intensivste war für mich der Lauf in der Nacht – bei Dunkelheit, Regen und Gegenwind alleine über die Deiche zu Laufen – so etwas habe ich bis anhin noch nicht erlebt. Idylle am WattenmeerMein absolutes Highlight war meine dritte Etappe: Im Sonnenaufgang entlang des Wattenmeeres zu laufen, am Horizont ein Wechselspiel von Gewitterwolken, Regenbogen und Sonnenschein – Freiheitsgefühl pur! Beeindruckt hat mich auch, wie lieb wir alle zueinander waren. Trotz Schlafentzug, unregelmässiger Nahrungsaufnahme, Platzmangel und einem miefenden Chaos im Bus haben wir uns gegenseitig unterstützt und angefeuert, aufgemuntert und gemeinsam gelacht. Es war für mich wirklich ein ganz aussergewöhnliches Wochenende und hoffentlich nicht die letzte Ragnar Relay.

Faszinierend, was der Sport alles möglich macht

Markus Aschwanden
Markus Aschwanden, 50, Marathon und Ironman, Schweiz

Die Ragnar Relay war eine Herausforderung der besonderen Art. Zehn Personen aus drei Ländern nehmen an einem Wettkampf teil und niemand kennt wirklich Alle. Ein Gruppendynamischer Prozess der unter Hochdruck stattfand – und super funktioniert hat. Denn wir konnten alle sofort performen. Einmal mehr war ich fasziniert, was der Sport alles möglich macht. Er verbindet. Und so durfte ich dank ihm einmal mehr viele neue Freundschaften für weitere gemeinsame Abenteuer schliessen. Als Marathonläufer und Triathlet war ich besonders gespannt, wie sich mein Körper bei mehreren Belastungen ohne adäquate Erholung oder Schlaf dazwischen verhält. Ich war überrascht, wie gut es mir gelang bis zum Schluss die volle Leistung abzurufen und es dadurch auch geniessen konnte.

Beeindruckend war für mich aber auch die Organisation, die zahlreichen Freiwilligen, die bei teils garstigen Bedingungen und mitten in der Nacht lange Zeit ausharrte haben.

Laufen schafft Freundschaften über Landesgrenzen hinaus

Annika Heusinger
Annika Heusinger, 36, Halbmarathon, Deutschland

Einleitend ist die Frage zu stellen, was überhaupt der Grund meiner Anmeldung zu dem Lauf über 254 Kilometer von Hamburg nach Sankt Peter-Ording war. Vielleicht der Umzug in meine neue Heimat an der Elbe? Gleichzeitig die große Sehnsucht nach meiner Herzensheimat Schleswig-Holstein – dem „echten Norden“? Diesen kündigt nicht nur ein Schild im Verlauf der A7 auf der Autofahrt nach Norden an, zudem entspricht diese Wahrnehmung auch meiner tiefen, inneren Überzeugung. Der einer Schleswig-Holsteinerin im Herzen und der einer Deern, die die Nordsee liebt.

Als Staffel entlang der Elbe und an der Nordseeküste von Hamburg nach Schleswig-Holstein ins schöne Sankt Peter-Ording zu laufen, sich den Wind um die Nase wehen zu lassen, salzige Meeresluft zu atmen und Schäfchen zu zählen ist meines Erachtens eigentlich schon Grund genug.  Dies aber mit ebenso laufbegeisterten und abenteuerlustigen Menschen zu tun, wie ich es bin, machte die Sache nur noch reizvoller. Meinen neuen schweizerischen und französischen Freunden zu zeigen, dass Deutschland nördlich von Hamburg noch nicht aufhört und nicht in ödes, plattes Land mit stürmischer See und hart am Wind übergeht war zudem eine Herausforderung, die ich gern annahm. Ich fühlte mich fast wie eine Botschafterin des echten Nordens.

Wie lässt sich dieses – bisher in meinem Laufleben einmalige – Abenteuer nun in einigen wenigen Worten treffend zusammenfassen?

Die 24 Stunden waren wettertechnisch gekennzeichnet von ausnahmslos allen Facetten norddeutschen Wetters, die man sich vorstellen kann  (oder auch nicht…) und die man als Norddeutsche zur Genüge kennt: Wind, der über das flache Land und auf dem Deich immer von vorn kommt. Regen, der von gefühlt allen Seiten auf einen hinabprasselt. Sonnenschein und ein laues salziges Nordseelüftchen bei strahlend blauem Himmel. Hagel, der dem Ganzen mit voller Wucht gefühlt noch die Krone aufsetzt oder klassisch norddeutsches Grau in Grau mit Regenbögen, entfernten Schauern und der spitzbübisch herausschauenden Sonne. Ich sollte ein für alle Mal verstehen, dass der Nord-Ostsee-Kanal tatsächlich die Wettergrenze im hohen Norden ist: Quad erad demonstrandum ist nach den intensiven Eindrücken dieses Laufes festzustellen.

Mit Anbruch der Nacht und nach dem ersten erfolgreich absolvierten Leg kreiste eine Frage in meinem Kopf und wurde zunehmend lauter: Was zum Teufel hatte mich geritten, mich auf diesen Lauf einzulassen. „Wie bescheuert musst man eigentlich sein“ warf ich mir mal laut und mal leise und in unterschiedlicher Intensität vor, während ich in unserem inzwischen total beschlagenen, kribbelig-kalten Achtsitzer versuchte in halsbrecherischen Sitz- oder Liegepositionen und mit Behelfsdecke irgendwie eine Mütze Schlaf zu bekommen und es mir muckelig zu machen. Die stoische Ruhe, der Spaß und die Motivationsfähigkeit der restlichen Teammitglieder waren dabei bemerkenswert und eine echte Unterstützung und Lichtblick am Ende des nächtlichen Legs. Jeder hat jeden angefeuert und moralisch unterstützt und trotz Übermüdung und Nasskälte gab es kein böses Wort und keinen Ärger, nur aufmunternde Worte, Hilfsbereitschaft und Zielgerichtetheit.

Der Ragnar Relay ist der Beweis, dass zehn komplett unterschiedliche Menschen mit der gleichen Leidenschaft – dem Laufen – im Team alles erreichen können obwohl sie unterschiedlicher nicht sein können. Mit Leidenschaft, Spaß, Begeisterung und Teamgeist aber auch Verständnis und Einfühlungsvermögen konnten wir dem Wetter, der Strecke, der Dunkelheit, der Kälte und der Nässe trotzen und wurden schließlich beim gemeinsamen Zieleinlauf mit Kaiserwetter belohnt: Blauer Himmel und Sonnenschein. Der „echte Norden“ zeigte sich seinen Gästen aus aller Welt von seiner besten Seite und belohnte für die Strapazen, die die Teams auf sich genommen haben.

Wichtige Erkenntnisse:

  1. Beim Laufen am oder auf dem Deich kommen der Wind immer von vorn und der Regen ausschließlich von überall.
  2. Gegenwind formt den Charakter, weswegen die Norddeutschen auch so unkomplizierte Zeitgenossen sind.
  3. Solange die Schafe noch Locken haben ist kein Sturm.
  4. Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung.
  5. Nirgends strahlt der Himmel so schön grau wie im „echten Norden“. Und so lange es nicht regnet ist das Wetter sehr gut.
  6. Moin bedeutet „Guten Morgen“, „Guten Tag“, „N’Abend, auch hier?“ und „Wie geht’s?“
  7. Moin moin ist schon Gesabbel.
  8. Sitzgelegenheiten aus Korbgeflecht, die am Strand aufgestellt werden und in die man sich zum Schutz gegen Wind und Sonne setzen kann, heißen Strandkorb.
  9. Watt mutt datt mutt! (Einfach hinnehmen, einfach machen – wird schon!)
  10. Muckelig heißt angenehm/mollig/wohlig warm, kuschelig: Das Gefühl wir während dieses Abenteuers nur selten hatten.

Die wichtigste Erkenntnis ist aber: Laufen verbindet und schafft Freundschaften auch über Grenzen hinweg. Ich habe wahnsinnig viel Spaß gehabt, obwohl ich klitschnass, schweiß- und regendurchnässt war und mir meistens kalt gewesen ist. Auf meinem letzten Leg, auf dem ich unter einer dicken grauen Regenwolke über das Eidersperrwerk gelaufen bin und pitschenass meine Wollmütze und meinen Pullover an meinen Superfan Marc übergeben habe, hat sich auch bestätigt: „Nach Regen kommt Sonne!“ Was für eine Wohltat das letzte Stück direkt entlang der in der Sonne glitzernden Nordsee links und dem Deich gesäumt mit unzähligen Schafen rechts entlangzulaufen und dann jubelnd von den anderen in Empfang genommen zu werden. Ein Moment, in dem ich vor Glück weinen wollte – so schön war es. Insgesamt ein unvergessliches Erlebnis, mit allen Höhen und Tiefen, trotz oder gerade wegen des Wetters und gekrönt von neuen Freundschaften und einer wundervollen Medaille. Zusammen ergeben die Medaillen ein Ganzes und fassen dieses Abenteuer passend zusammen: „Wir sind Ragnarians. Zusammen können wir alles erreichen.“

Erste grosse Herausforderung nach dem Burnout

Andrea Kräutli
Andrea Kräutli, 46, Freizeitläuferin, Schweiz

Für mich war die Ragnar Relay ein richtiges Abenteuer. Nicht nur weil sie für mich eine sportliche Herausforderung darstellte. Ich packte diese an mit neun Personen, von denen ich acht noch nie zuvor getroffen hatte. Das verlieh der Geschichte viel Spannung und einen ganz besonderen Reiz. Und es ging schon Wochen vor dem Start los: Denn nach der Zusage und Aufnahme im Team, also etwa elf Wochen vor dem Event, habe ich mich erst darauf konzentriert, dreimal die Woche zu laufen. Die Motivation war gegeben, das Ziel vor Augen. Da war kein Platz mehr für Ausreden irgendwelcher Art. Es war meine erste physische Herausforderung nach einer Burnout-Diagnose vor gut einem Jahr. Seither habe ich es nicht geschafft, regelmässig zu laufen, ins Yoga zu gehen oder mich sonst regelmässig zu bewegen. Das wollte ich ändern, weil mein Fitnesszustand wirklich zu wünschen übrig liess – besonders für ein derartiges Abenteuer. Das Training hat mir gut getan. Natürlich war es anfangs hart, denn ich musste nach drei Kilometern kurz gehen, weil meine Beine schmerzten, aber es ging besser und besser. Von Anfang an hatte ich grossen Respekt vor der körperlichen Herausforderung. Die Distanz resp, 3 mal Laufen ist die Eine, praktisch nicht schlafen die Andere. Für mich war die Devise, durchhalten, Zeit ist egal, aber ankommen muss ich. Gefreut auf den Event und das Abenteuer, habe ich mich von Anfang an, richtig (positiv) aufgeregt war ich eine Woche vorher, nervös am Abreisetag, und so richtig übel nervös in der Nacht davor. Wirklich frühstücken lag deshalb am Tag X nicht drin. Doch in der Gruppe legte sich die Nervosität – sobald wir aktiv wurden, die Haare der Mädels flechteten. Noch ein letztes Mal aufs Klo – und schon ging es es los… Durch Hamburgs Strassen, die Wegweiser finden, durchhalten. Und da war auch schon der erste Wechselpunkt, wo ich Sarah ins Rennen schickte…. Ich war fix und foxy.Mit dem Sonnenaufgang kommt die ErleichterungEin krasser Kontrast dazu bildete meine zweite Etappe: Dem Deich entlang, es war stockdunkel, nur die Augen der Schafe funkelten. Dann endlich ein wenig schlafen. Der Wecker klingelte nach wenigen Stunden schon wieder, die letzte und längste Etappe stand an. Alles in mir sträubte sich gegen die nasskalte Dunkelheit, die auf mich wartete – es war schlicht unvorstellbar, die neun Kilometer auch noch zu überstehen. Der Weg führte mich gleich auf den Deich, rechts das Meer, die Sonne geht auf. Welch’ versöhnliche Stimmung! Mit dem Laufen kehrte die Wärme in meinen Körper. Trotzdem hatten es meine letzten vier Kilometer in sich. Ich kämpfte mich ins Ziel, musste kurz gehen, da ich einfach nicht mehr konnte. Ich wollte nur noch eines: Ankommen, endlich fertig werden. Dann endlich! Das Ziel! Überglücklich meine Distanzen geschafft zu haben, müde und zugleich aufgepeitscht – die Gefühlspalette zeigte in diesem Moment, was sie drauf hat.

So ist die Ragnar Relay für mich nicht nur ein Erfolg, weil wir sie als Team gemeistert haben. Ich habe durch sie erstmals nach meinem Burnout erfolgreich eine grosse Herausforderung gemeistert. Sie ist für mich der erste Schritt zurück zu meiner physischen Stärke und zu meinem guten Körpergefühl.

Szenen eines Horrorstreifens

Simon Göldi
Simon Göldi, 43, Freizeitläufer, Schweiz

Die Aufregung war sehr gross am Samstagmorgen. Nach dem Start am Fischhafen stieg der Puls merklich an – ausserdem regnete es stark. Da ich nasse Kleidung nicht wirklich toll finde, plünderte ich gefühlt alle langen Jogginghosen und -pullis im Sportscheck. Nun kann nichts mehr schief gehen. Leider dauerte es ziemlich lange, bis ich endlich an die Reihe kam. Am frühen Abend ging es endlich los. Die Strecke führte durch ein Naturschutzgebiet (so kam es mir zumindest vor), welches durch einen Deich geschützt wurde. Eine Läuferin befand sich hinter mir. Immer schön den Vorsprung verteidigen lautete meine Devise. Später führte die Strecke durch einen kleinen Ort. Ein Vater mit seiner Tochter pflückte frische Äpfel vor dem Bauernhof. Diese Szene weckte wohlige Kindheitserinnerungen in mir. Im Hintergrund entdeckte ich eine Windkraftanlage. Wahrscheinlich muss ich dann dort links über eine Brücke in die Zielgerade abbiegen. Irgendwie wollte diese Anlage nicht näher rücken. Nachdem ich mich von dieser „Fixierung“ löste, widmete ich mich wieder der Landschaft und der Musik. Dummerweise klickte ich vor dem Start aber auf eine Chill-out-Playlist, welche sich eher zum Einschlafen eignete. Das war mir in jenem Moment aber egal. Kurz vor der Brücke erspähte ich das „Letzte-Kilometer-Schild“ und wurde kurz darauf von Pia in Empfang genommen. Nach der Staffelübergabe blieb leider nicht viel Zeit für Dehnübungen übrig, da wir uns zum nächsten Übergabepunkt beeilen mussten. Ich fragte mich, ob mein Knie mir das verzeihen wird.

Wechselzone im Vollmondlicht

Die Nacht brach an und die schöne Landschaft hüllte sich in der Dunkelheit ein. Nach einer längeren Pause folgte mein zweiter Lauf. Auf diesen freute ich mich sehr: Mitten in der Nacht. Irgendwie fand ich das verrückt. Ein fürchterlicher kalter Wind blies mir am Elbdeich entgegen. Nach etwa 5 min. nahm ich die Staffel entgegen und rannte in die einsame Dunkelheit rein. Zuerst aber einmal Schafgatter öffnen und schliessen. Die Gischt wurde vom Wind stark verweht. An den Gräsern bildeten sich kleine Salzkristalle. Unzählige kleine Augenpaare blickten mir entgegen. Nein, du befindest dich nicht in einem Zombie-Horror-Film. Nein, der böse Mann mit der Motorsäge wird nicht aus dem Nichts über dich herfallen, redete ich mir ein. Die Gedanken fand ich lustig, denn es handelte sich um harmlose Schafe welche sich bestimmt über den Idioten aufregten, der ihren Schönheitsschlaf raubte. Gatter auf, Gatter zu und weiter rennen. Ich wunderte mich über das emsige Treiben in der Elbmündung. Kleine und grosse Frachtschiffe sowie ein hell beleuchtetes Kreuzfahrtschiff tuckerten den Fluss rauf oder runter. Gatter auf, Gatter zu und weiter rennen. Es folgte ein Schafsklo-Abschnitt, welcher extrem rutschig war. Der Pfad war flächendeckend übersät mit „Du weisst schon was“. Ich wollte aufs Gras ausweichen, aber dieses war nicht minder rutschig. Also Augen zu und durch. Gatter auf, Gatter zu, einen Läufer dabei überholen und weiter rennen. Beinahe hätte ich eine falsche Abzweigung genommen. Die Orientierung in der Nacht mit einer Stirnlampe ist echt eine Herausforderung. Komischerweise sagte mir dann ein Pfeil 50m nach der Kreuzung, dass ich mich immer noch auf dem richtigen Kurs befände. Zum letzten Mal folgte ein Gatter auf und Gatter und ich setzte zum Endspurt an.

Mein Knie motzte mich ziemlich an, indem es den Schmerz einläutete. Zum Glück reichte es zeitlich für ausgiebige Dehn- und Lockerungsübungen. Irgendwie hatte ich aber ein ungutes Gefühl. Weder Wärmegel, noch unzählige Salben halfen den Schmerz einzudämmen. Evtl. wird es am Morgen besser – die Hoffnung stirb zuletzt. Mit diesem Gedanken begab ich mich ins Schlummerland und träumte wahrscheinlich einen oscarverdächtigen Zombie-Film. Anscheinend legte unsere Gruppe bei einer Bäckerei einen Stopp ein für Kaffee und frische Brötchen. Davon bekam ich im Tiefschlaf nichts mit. Somit wäre die These bestätigt, dass man in einem vollbesetzten Minivan schlafen kann.

Im Morgengrauen musste ich dann eine schwere Entscheidung treffen: to run or not to run. Wenn ich meine letzte Etappe anpacke, dann werde ich mit grosser Wahrscheinlichkeit einen hohen Zeitverlust generieren. Ausserdem war die Strecke autofrei. Das heisst, einen Totalausfall konnte ich mir nicht erlauben. So entschied ich mich dagegen, meine letzte Etappe anzutreten und übergab diesen an Markus. Ziemlich frustriert sass ich nun im Bus. Tröstende und aufmunternde Worte von meinen Team konnte dann etwas später meine Stimmung anheben. Plötzlich fiel mir ein, dass beim Zieleinlauf das gesamte Team mitrennen darf. Diese letzten Meter werde ich schaffen. Ganz im Sinne von einem letzten Aufbäumen. Zuerst mussten wir aber unseren Van parken, den Shuttlebus nehmen und dann ein Stück in die entgegengesetzte Richtung gehen. Pia meisterte die letzte Etappe bravourös, wir nahmen sie in Empfang und kreischten wie die Teenies durch die Ziellinie. Wir haben es geschafft! Alle Tiefs, das Gattertrauma, die Schmerzen, der böse Motorensägenmann waren gedanklich ausgelöscht. Wir waren da. Am schönsten Ort der Erde. Nach 25 Stunden. St. Peter-Ording. Der Korken einer Sektflasche knallte, denn ein solcher Erfolg soll auch gefeiert werden. Glückshormone schleuderten durch meinen Körper und liessen mich auf einer Wolke schweben. La vita è bella sagte ich gedanklich zu mir. Denn das schönste Geschenk im Leben ist Glücklichsein. Übrigens ziert nun die schönste Medaille der Welt den Eingangsbereich meiner Wohnung.

Auf Umwegen in der Nacht

Esther Cahn
Esther Cahn, 43, Freizeitläuferin, Schweiz

Puuuh … 25 Kilometer. Ganz schön viel für eine Laufanfängerin wie mich. Umso seriöser habe ich mich in den Monaten zuvor darauf vorbereitet. Trotzdem war ich entsprechend nervös. Mein erster Lauf war der längste. Insgesamt 12 Kilometer davon 9 km der Elbe entlang mit Sicht auf grosse Schiffe und Leuchttürme. Mit jeden Schritt wich die Nervosität und liess der puren Freude am Laufen und an diesem tollen Event Platz. Als es langsam anfing zäh zu werden, motivierte mich der Gedanke, dass am Etappenziel mein Team auf mich wartete und als ich den letzten Kilometer in Angriff nahm, wusste ich, dass sich der nachfolgende Läufer bereits aufwärmte. Ab da habe ich den letzten Kilometer und den Empfang durch das Team einfach nur noch genossen.

Vor dem zweiten Lauf hatte ich am meisten Respekt, obwohl nur 7 km auf dem Plan standen. Aber im Dunkeln, alleine, durch die Heide war schon etwas ganz besonderes. Gelegentlich überholte mich ein schnellerer Läufer aber die meiste Zeit war ich alleine auf weiter Flur. Dummerweise verpasste ich vor dem Ziel einen Abzweiger und geriet auf die nachfolgende Strecke. Als ich meinen Irrtum bemerkte blieb nur noch der Weg zurück. Der Umweg schlug mit 4 zusätzlichen Kilometern zu buche. Auf dem letzten Kilometer begegnete ich einem sehr sportlichen Läufer, der von der richtigen Streck her kommend zuerst leicht irritierte war. Als ich ihm erklärt hatte, dass er schon richtig war und weshalb ich von der anderen Seite kam, hat er gelacht und mich von da an bis ins Ziel begleitet. Dafür musste er sein Tempo deutlich drosseln. Unterwegs erzählte er mir, dass sein Team die 275 km zu viert absolvierte (!). Vielleicht war er auch deshalb gar nicht so unglücklich darüber, sich während eines lockeren Abschnitts mit mir ein wenig von den bisherigen Strapazen zu erholen. Am Etappenziel haben wir uns dann jedoch sofort aus den Augen verloren. Danke lieber Unbekannter für die Gesellschaft! Vergessen werde ich diese Geschichte nie. Eine Geschichte, die wohl nur ein Ragnar Run schreiben kann.

Die letzte Strecke mit 5 Kilometer war gezeichnet von Sturm und sinnflutartigen Regenfällen. Ich genoss trotzdem miesen Wetter und trotz doch langsam etwas schweren Beinen diesen letzten Abschnitt in vollen Zügen. Danach war ich zwar pflotschnass aber auch stolz und glücklich auf meine insgesamt 28.9 km.

Im Nachhinein beeindruckt mich auch sehr, was Ragnar mit unserem Team gemacht hat. Ganz unterschiedliche Arten von Läufern, vom Routinierten Marathon-Läufer bis zu Laufanfängern war jede Abstufung vertreten. Aber von der ersten Minute an, waren wir einfach ein grossartiges Team, dass zusammen ein riesen Abenteuer erlebt. Das hat eine Verbindung geschaffen, die bis heute anhält. Zu den nächsten gemeinsamen Läufen haben wir uns bereits verabredet.  

Die Zielgerade am Strand von St. Peter Ording

2 Kommentare Gib deinen ab

  1. Benno sagt:

    Super schönes Abenteuer, gibt sofort Lust auch ein Team fürs nächste Jahr zu bilden. Danke für die inspirierende Geschichte. Bisous jetzt nach HH.

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    1. wertli2 sagt:

      Sehr gerne – es hat Spass gemacht!

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