Athen: Der Lauf der Geschichte

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Kostas Hatzis hat zig Marathons bestritten. Er reist dafür um den Globus. Kennt alle Trends der Laufwelt. Doch das technologische Wettrüsten der Sportartikelhersteller lässt den Griechen kalt: An diesem Novembertag trägt er im Städtchen Marathon bei der Eröffnungszeremonie des Marathons von Athen stolz eine Fustanella – die weisse, griechische Tracht mit schwarzem Gilet und breitem Stoffgurt sowie helle Strumpf­hosen. An den ­Füssen Tsarouchi, die Traditionsschuhe der Präsidentengarde. Die Spitzen zieren grosse schwarze Pompons.

Vor Kostas Hatzis erhebt sich der Grabhügel, in dem die Gebeine der Athener ruhen sollen, die 490 v. Chr. im Kampf gegen die Perser fielen. Hier wurzelt die Geschichte des Marathons. Hier begann der griechische Bote Pheidippides zu laufen. Er rannte rund 40 Kilometer nach Athen, um den Sieg der Griechen zu verkünden – und starb vor Erschöpfung. Bis heute nährt Pheidippides’ Tod den Mythos des Marathons, der als Königsdisziplin der Läufer gilt.

An dieser Grabstätte findet jeweils ein Tag vor dem Athen Marathon, an dem fast 20’000 Sportler antreten, eine Zeremonie statt. Während andere grosse Lang­streckenveranstaltungen mit viel Show die Teilnehmer anlocken, begnügen sich die Griechen damit, die Tradition herauszustreichen. Ihr Trumpf ist die Geschichte, die Legende.

Eine Spitzenathletin entfacht das Marathonfeuer

Diese prägt auch die Zeremonie am Grabhügel: Eine Theatergruppe inszeniert unter freiem Himmel den Krieg gegen die Perser, den Sieg und den legendären Lauf des Boten. Die Geschichte rezitiert ein Erzähler in griechischer Sprache, was die

Authentizität des Anlasses unterstreicht. Begleitet vom Gesang eines Chors, entzündet der Bote die Marathonflamme und übergibt an diesem Samstag die Fackel der Spitzenläuferin Gladys Cherono.

Die kenianische Athletin hat sich am Tag zuvor als Marathonläuferin des Jahres feiern lassen. Nun schreitet sie andächtig durch die Zuschauerreihen. Ehrfürchtig trägt sie das Symbol von Hoffnung und Mut, um kurze Zeit später im Startgelände damit das Marathonfeuer zu entfachen.

Wie die Touristen zückt auch Kostas Hatzis das Handy, als die Spitzenathletin die Stufen hochschreitet und das Feuer entzündet. Der Brauch erinnert an olympische Eröffnungsfeiern – nur ist diese Zeremonie bedeutend bescheidener und gerade deshalb berührend.

Jetzt ist die Aufregung der anwesenden Läufer hörbar: Sie tauschen die letzten Tipps aus, knipsen Selfies mit dem Feuer, das ihnen Glück bringen soll – und mit Hatzis, der nicht müde wird zu betonen, dass der Marathon der griechischen Kultur zu verdanken ist.

Am nächsten Morgen schlüpft der Grieche wieder in seine Tracht. Doch diesmal schnürt er leichte Laufschuhe. Erst kurz vor dem Ziel wird er sie wieder gegen die klobigen Tsarouchi austauschen. Das ist der einzige Komfort, den sich der routinierte Langstreckenläufer leistet. Die traditionelle Tracht behält der 61-Jährige an. «Ehrensache», sagt er. Die Ehre, sie ist Kostas Hatzis wichtig. Deshalb verzichtet er auf atmungsaktive Sportkleider – obwohl er an diesem Tag 42,195 Kilometer in der Sonne zurücklegen wird. «Ich will den guten Ruf der Griechen verteidigen.»

Das scheint ihm zu gelingen. Der Läufer ist wegen seiner Tracht im Startgelände ein beliebtes Fotosujet der Touristen, die für den Marathon mit Kind und Kegel aus mehr als 100 Ländern angereist sind.

Genau das ist das Ziel von Ionna Dretta. Die Geschäftsführerin von Marketing Greece will den Marathon zum Touristenmagneten machen. Er soll im Herbst die Betten in der Region Athen füllen. Deshalb finden am selben Tag ein 10-Kilometer- sowie am Morgen und am Abend je ein 5-Kilometer-Lauf statt. «So haben auch die Begleitpersonen die Möglichkeit mitzulaufen», sagt Dretta. Verschiedene Athener Herbergen sind als Marathonhotels designiert. Sie bieten den Sportlern jene Dienstleistungen, die rund um einen Marathon wichtig sind – etwa ein reichhaltiges Pastamenü am Vorabend, ein zeitiges Frühstück am Wettkampftag sowie ein Spa für die Entspannung danach.

Die Touristen sollen aber nicht nur die Laufgeschichte erleben. «Sondern die Stadt mit all ihren Facetten», sagt Tourismuspromotorin Dretta. Denn die Metropole sei nicht nur wegen ihrer berühmten Kulturstätten wie der Akropolis eine Reise wert. «Athen bietet gerade im Herbst mehr», sagt die Griechin.

Eine Oase ist Anafiotika – so nennen die Athener das Quartier am Fuss der Akropolis. Mitten in der lärmigen Stadt findet der Marathoni in den engen Gassen Ruhe, vor dem Wettlauf – oder die verdiente Erholung danach. Weisse Häuser, verziert mit etlichen Blumen, liegen unmittelbar unterhalb der weltberühmten Sehenswürdigkeit. Hier finden sich kaum Souvenirshops und nur wenige Restaurants, denn in Anafiotika wohnen noch immer die Nachfahren der Erbauer dieses Quartiers: Menschen, die von der Kykladeninsel Anafi auf der Suche nach Arbeit in die Stadt zogen.

So auch die Grosseltern der ­Alten, die an diesem Tag aus einem Fenster lugt. Sie schlürft an einem heissen Tee, nickt auf die Frage, ob sie hier aufgewachsen sei, und zeigt mit ihrem knorrigen Finger ins Haus hinein. Da sei sie geboren, sagt sie nach einer langen Pause. Wie schon ihr Vater, der ihr das Haus vermacht hatte. Ihre Tochter habe aber im städtischen Spital das Licht der Welt erblickt. «Heute ist das so.» Die Alte verzieht abschätzig den Mund – und widmet sich ihrem Tee. Das Gespräch ist beendet.

Olivenzweige bringen den Läufern Glück

Für Kostas Hatzis ist der Marathon bald zu Ende. Er passiert ­Dromeas, die berühmte Läuferstatue aus Glas, hat dafür aber keine Augen. Denn: Die Strecke des Athen Marathon hat es in sich. Die ersten zehn Kilometer sind hügelig und verlangen den Läufern kräfteraubende Rhythmuswechsel ab. Danach steigt die Route bis Kilometer 31 kontinuierlich an und führt dann abschüssig ins Ziel. Hatzis trägt jetzt wieder das traditionelle Schuhwerk. In seiner Rechten hält er einen Olivenzweig. Eine Zuschauerin hat ihm diesen kurz nach der Halbmarathon-Marke als Glücksbringer mitgegeben – auch das hat in Athen Tradition.

Nach gut fünfeinhalb Stunden läuft Hatzis ins Panathinaiko-Stadion ein. Wo einst die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit stattfanden und später Stars wie Tina Turner konzertierten, lassen sich an diesem Tag die Marathonis feiern. Der charismatische Grieche lächelt wieder, der Applaus hat ihm neue Kraft verliehen. Und im Ziel verrichtet der «Botschafter der Griechen» wieder seinen Job: Er posiert für Fotografen.

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