„Das ist etwas für Kenianer oder für Midlife-Crisis gegeisselte 50er!“ So lautete der ernüchternde Kommentar meines Zwillings, als ich ihr meinen grossen Plan eröffnete: Der New York-Marathon 2010. Ich habe mein Projekt „Beiss dich durch den Big Apple“ genannt, ihre Feststellung schmeckte definitiv wie der Biss in einen sauren Apfel. Gedanklich gehe ich durch die Bilder des diesjährigen New Yorker Grossanlasses. Tatsächlich, das Läuferfeld dominieren Männer um die 50. Und die schwarzen „Gazellen der Strasse“, sie führen das Feld der rund 40 000 Sportler üblicherweise an.
Meine Attribute: Blass, um nicht zu sagen weiss und noch keine 50, – bedeuten diese unveränderbaren physischen Merkmale das Ende meines Vorhabens? „Keineswegs“, beruhigt mich Markus Ryffel, erfolgreicher Schweizer Langstreckenläufer. „Die Frauen sind auf der Überholspur, auch wenn das Feld hauptsächlich aus Männern besteht.“ Er muss es wissen, jährlich begleitet er mit Kuoni rund 150 Läufer an den legendären Marathon von New York. Ryffel räumt aber ein, dass es bei vielen Hobbyläufern, welche die 42,195 Kilometern in Angriff nehmen, tatsächlich darum gehe zu beweisen, dass sie noch zu etwas fähig sind. „Denn das Bad in der Menge, die gesellschaftliche Anerkennung, der Respekt vor der eigenen Leistung, die Steigerung des Selbstwertgefühls, der Muskelkater in der folgenden Woche – alles ist inklusive.“
Me, myself and I
Nein, das war es definitiv nicht, was an jenem frühen Herbstmorgen die Bombe in mein Leben einschlagen liess. Ich traktierte den Boden mit meinen Laufschuhen, die Welt schlummerte. Mein Puls schlug schneller. Aber nicht etwa weil ich schneller lief – nein, ich hatte das berauschende Gefühl Herrin meines eigenen Lebens zu sein. Frei von den Ketten des Alltags, frei von den Fesseln meiner Agenda – die Welt lag mir zu Füssen. Für einmal kein Zäckchen eines Zahnrades in der Maschinerie der Gesellschaft sein – nicht einmal ein Zahnrad selbst.
Und da war er, dieser Geistesblitz: Warum nicht noch einen Schritt weitergehen und den Biss in den Big Apple wagen? 42.195 Kilometer laufen – das ist Knochenarbeit. Meine Knochen, meine Arbeit – ob ich dies in zwölf Monaten schaffe, liegt grösstenteils in meinen Händen und natürlich an meinen Füssen. Und bei diesem Vorhaben würde es nur drei Protagonisten geben: Me, myself and I. Und zwar in der mythischen Marathon-Kulisse von New York – wenn schon, denn schon!
Unerwartete Herausforderung
Auf die erste Herausforderung hatte ich indessen wenig Einfluss – und sie kam für mich als Marathon-Laien völlig unerwartet. Ein Blick auf die Homepage des Veranstalters gefährdete mein Vorhaben nur wenige Stunden nachdem ich ihn gefällt hatte: Denn den Veranstalter des New York Marathons lässt meine Euphorie kalt. Das Los würde offenbar im März über den Startplatz von Normalsterblichen entscheiden – so will es das Lottery-Reglement. Fassungslos klick ich mich durch die Internetseite.
Da! Eine Qualifikation würde mir direkt eine Startnummer beschaffen – die Zeitvorgabe: 3 Stunden 23 Minuten – illusorisch und das mit den „Gazellen der Strasse“ hatten wir schon. Ich war auch nicht eine der Unglücklichen, die seit drei Jahren auf einen Startplatz wartet und darum direkten Zugang zur Austragung 2010 erhält. Meine Chance wittere ich bei den Wohltätigkeitsläufern – warum nicht meinem Biss auch noch die Süsse der Grossherzigkeit verleihen? Die beiden Wohltätigkeits-Gruppen, nennen sich „New York Road Runners Champion’s Circle 2010“ und das „Team for Kids“. Während ersterer einen Spendenbeitrag von 2500 US Dollars gegen den begehrten Startplatz tauscht, sind beim zweiten die Informationen noch nicht aufgeschaltet. Ich stemple diesen Versuch als finanzielle Sackgasse ab.
Lady Luck und Patience
Meine letzte Chance sind die fünf Schweizer Reiseveranstalter, die als offizielle Partner des New York Marathons figurieren. Kuoni, Mtch, Albis Reisen, Ernst Marti Travel und Swiss Alpine Marathon erhalten vom amerikanischen Veranstalter ein jährlich ein Kontingent an Startplätzen zugeteilt. Ihr Paket beinhaltet in der Regel Betreuung, Flug, Transfer, Startplatz und Hotel. Je nach Anbieter kommen noch andere Leistungen dazu. Die Angebote kosten zwischen 3500 und 5000 Franken. Und bei allen tönt es ähnlich: Sie sind durch Vorreservationen ausgebucht – die Warteliste ist aber noch offen. Ich schicke zwei imaginäre Pferde ins Rennen: Lady Luck startet im Lottery-Derby. Patience steht in den Startboxen eines Veranstalters.
(publiziert auf http://www.tagesanzeiger.ch)