Die Holle scheint vollends von der Rolle zu sein: Ein Wintersturm tobt vor dem Fenster, das Quecksilber schafft es nicht mehr über die Nullermarke. Auf meinem Programm steht ein zweistündiger Lauf. Die Schuhe stehen bereit. Und plötzlich steht er vor mir – verführerisch, schelmischer Blick, stark, unwiderstehlich: Kai Luscht. Charmant legt er den Arm um mich und geleitet mich zum Sofa. «Wie wär’s mit einer Tasse Glühwein?» Mein Blick streift meine Laufschuhe. «Und dazu ein spannendes Buch?» Gewinnend rückt Kai Luscht die Wolldecke zurecht.
Seine dunklen Augen halten meine gefesselt. Ich reisse mich los und ringe mit mir selbst. So schnell darf ich nicht kapitulieren. Er lässt nicht locker und spielt seinen letzten Trumpf: Mit Ronan Keatings «If Tomorrow Never Comes» schmilzt nicht der Schnee, sondern mein Wille. Mein Widerstand ist gebrochen. Während ich mich ihm hingebe, nehme ich aus den Augenwinkeln meine Laufschuhe und die mit dem Wind flirtenden Flocken vor dem Fenster wahr. Genussvoll lasse ich Kai Luscht diesen Kampf gewinnen. Heute ist sein Name Programm!
Eines tröstet mich über das darauf folgende, schlechte Gewissen hinweg: Wer Kai Luscht verfällt, ist in illustrer Sportler-Gesellschaft. Auch die Schweizer Ironman-Lady Natascha Badmann muss sich gegen seinen Charme wappnen. Gerade dann, wenn es darum geht, bei Regen und Kälte den Drahtesel zu satteln. Und wenn dann noch am Abend vorher bei einer Party die Post abging, ist seine Anziehungskraft umso grösser.
Sie legt sich dann ihre eigenen Waffen zurecht: «Ich schreibe mir auf, worauf es sich zu freuen lohnt. Beispielsweise, dass ich gesund bin und jetzt gleich meine ganze Kraft spüren darf. Denn wenn ich gute Gedanken habe, hat kein schlechter mehr Platz!» Der Ratschlag der Ironman-Habituée an die Marathon-Novizin lautet: «Es ist besser einmal ein Training auszulassen, um danach wieder lustvoll weiter zu laufen – damit verliere ich nichts, aber ich gewinne Freude.»
«Wer eine Ausrede braucht findet immer eine»
Ähnlich erging es Christian Belz, Halbmarathon-Schweizermeister 2009, am vergangenen Silvesterlauf 2009. Es pfiff ein eisiger Wind in den Zürcher Strassen, Kai Luscht war ihm dicht auf den Fersen. «Für den Bruchteil einer Sekunde habe ich mich gefragt, warum ich mir das antue.» Er hält mir eisern den Spiegel hin: «Schlechtes Wetter allein darf kein Grund sein – denn wer eine Ausrede braucht, findet immer eine.» Er gehe mit neuen Strecken, wechselnden Trainingspartnern oder einem variierten Laufprogramm gegen Kai Luscht vor. «Manchmal wirken auch neue Schuhe, mit denen ich mir nicht erlauben will, langsam zu laufen.»
Diesmal ist es Petrus, der Kai Luscht aufbot. Der Regen verwandelt Holles Pracht in tristen Matsch. Der Trainingsplan ist unerbittlich: 1 Stunde 20 Minuten. Ich höre ihn bereits an die Türe klopfen – erst zaghaft, dann bestimmt. Und da steht er wieder. So verführerisch, dass er gar Hollywood-Beau George Clooney in den Schatten stellt. Wie ein geölter Blitz schiesst mein Hund Jack aus seinem Korb, fletscht die Zähne und macht dem Charmeur deutlich: An diesem Tag würde er keinesfalls auf seinen Spaziergang verzichten.

Mein eigenwilliger, kleiner Hund schert sich keinen Deut um Kai Luschts Verführungskünste. Und wieder klopft es an der Türe: Jacks Nachhut ist eingetroffen. Ich hatte per Facebook bereits vor einer Woche meine Laufgruppe mobilisiert und da stehen sie alle. Sie haben nicht nur Kai Luscht im Regen stehen lassen. Sie sind jetzt bereit auch Petrus die Stirn zu bieten – wie kann ich da ans Kneifen denken?
(publiziert auf http://www.tages-anzeiger.ch)