Lang und langsam unterwegs

Regen. Kälte. Dunkelheit. Das ist Petrus‘ Kampfansage in dieser Nacht. Er hat alle Register gezogen und macht deutlich: Mein erstes Mal soll kein Genuss sein. Noch nie hatte ich meinem Körper mehr als 27 Kilometer zugemutet. In dieser Nacht sollten es über 30 werden. Der Veranstalter des zweiten Vollmondlaufs hat – auf eine sternenklare, romantische Nacht hoffend – den Start um Mitternacht angesetzt. Ich habe mich bis auf die Zähne bewaffnet. Dem Regen, der Kälte und der Dunkelheit stelle ich Zuversicht, Durchhaltewillen und Gelassenheit entgegen – schliesslich sind die zusätzlichen Kilometer, die es zu laufen gilt, an einer Hand abzuzählen.

Die vorgesehene Strecke führt vom Pfäffiker Seequai über Bubikon, Rapperswil, über den Etzel bis nach Einsiedeln. Die verschiedenen und regelmässigen Trainings zeigen langsam Wirkung: Im Wissen, dass mich meine Beine bis 20 Kilometer bisher nie im Stich gelassen haben, lache ich gelassen dem übelgelaunten Wettergott ins Gesicht – und ehe ich mich versehe, habe ich Rapperswil bereits hinter mich gelassen. In der Dunkelheit ragt vor mir die nördliche Flanke des Etzels auf. „Etzel der Schreckliche“, so nannten die mittelalterlichen Geschichtsschreiber Attila den gefürchteten Hunnenkönig. Ich lasse mich davon nicht einschüchtern. Die zahlreichen Bergläufe der vergangenen Monate haben mir jeweils nicht nur den Atem geraubt, sie haben mir auch Selbstvertrauen geschenkt. Die Gelassenheit taktiert meine Schritte, während sich die Zuversicht wie einen wärmenden Mantel um meine nassen Schultern legt. Die erste Steigung weckt meinen Durchhaltewillen. Das fahle Licht des Vollmonds vermag den dichten Wolkenvorhang, den Petrus gezogen hat, nicht zu durchbrechen. Der Lichtkegel meiner Stirnlampe erhellt mir jeweils knapp die beiden nächsten Schritte – mehr nicht.

Keinen Schritt weiter

Die Dunkelheit raubt mir das Gefühl für Raum, Geschwindigkeit und Zeit. Ich laufe mitten im Augenblick. Die Kälte nagt an meinem Körper und fordert ihr erstes Opfer: meine Gelassenheit. Ich tappe im Dunkeln, was die Grösse „des Schrecklichen“ betrifft. Wie weit, wie hoch noch? Meine Waden melden die erste Erschöpfung. Erbarmungsloser Dauerregen dringt durch meine Kleider, während die bittere Kälte sich wie ein kräftezehrender Parasit langsam in jeder Faser meines Körpers einnistet. Das zuverlässige Geräusch meiner Schritte auf dem nassen Asphalt, nährt indessen noch immer meine Zuversicht – weit kann es bis zum Gipfel einfach nicht mehr sein. Und eine Kurve weiter verliert sich der Lichtstrahl tatsächlich statt im bewaldeten Etzehang wieder in der Nachtluft. Geschafft… noch ist die 30er-Marke aber nicht geknackt.

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Bild: Lukas Linder

Während mir der Aufstieg die Gelassenheit genommen hat, knöpfen sich während dem Abstieg die Kälte und der Regen meine Zuversicht vor. Einige Stunden zuvor hatte ich „dem Schrecklichen“ den Fehdehandschuh hingeknallt, nun geht es nur noch darum der eigenen Ermüdung die Stirn zu bieten. Einer belagerten Festung gleich, heisse ich meinen Körper jetzt: aushalten. Mein Kampfgeist hat sich davon geschlichen, so erdulde ich drei unendliche Kilometer lang jeden einzelnen meiner Schritte. 4 Stunden und 45 Minuten nach dem Start beherrscht mich in Einsiedeln nur noch ein Gedanke: wie soll ich in einem Monat in New York noch acht weitere Kilometer durchhalten?

Die Durchhalte-Tipps der Lauflegenden:

„Der Unterschied zwischen dem angriffigen Beissen und dem Durchbeissen spielt sich im Kopf ab“, weiss Lauflegende Thomas Wessinghage. Das wolle geübt sein. Und weil der Biss nicht bei jedem Läufer nach der gleichen Distanz auf der Strecke bleibe, gehörten auch längere Läufe in einen Marathontrainingsplan. Der deutsche Arzt kennt das Phänomen aus seiner Zeit als Spitzensportler. „Ich war es gewohnt auf 1500 Metern meine Angriffslust zu mobilisieren, als ich die 5000-Meter-Distanz in Angriff nahm – und beim ersten Rennen nach rund 1500 Metern meinen Gegnern eine leichte Beute war.“ Mittel gegen die mentale Resignation existierten ebenso viele, wie es Läufer gebe. Wessinghage hatte seines offensichtlich gefunden, er bodigte seine Gegner 1982 an den Europameisterschaften über 5000 Meter. „Ich zählte jeweils die ersten siebeneinhalb Runden aufwärts, während ich mich in der zweiten Hälfte des Rennens abwärtszählend motivierte“, erinnert sich Wessinghage. Er rät mir indessen ab, in New York ähnlich vorzugehen. Der kritische Moment komme selten schon nach 21 Kilometern. Er legt mir deshalb ans Herz: „Beginnen Sie erst bei Kilometer 30 mit dem Runterzählen.“ Ausserdem führt Wessinghage positive Gedanken, gegen die Kraft der Erschöpfung ins Feld. „Sie kommen aus Ihrem Innern und sind daher massgeschneidert, wirken aber wie äussere Einflüsse.“

Viktor Röthlin, der derzeitige europäische Marathon-Mann schlechthin, rät mir in einer Treffpunkt-Sendung des Radio DRS 1 ebenfalls die 42,195 Kilometer lange Strecke zu unterteilen. So werde der Marathon zum positiven Erlebnis: „Das Ganze dritteln“, lautet sein Geheimnis. Während der ersten 14 Kilometer legt der Marathon-Europameister mir Sightseeing ans Herz. Ich solle die schöne Stadt mit den vielen Leuten am Strassenrand geniessen. „Die zweiten 14 Kilometer auf eine gute Lauftechnik konzentrieren und von Kilometer 28 an dürfen Sie auf die Zähne beissen.“ Aber ja nicht schon von Anfang an. „Sonst kommt es sicher nicht gut“, hebt Röthlin den Mahnfinger.

Auch der einstige Schweizer Olympionike Markus Ryffel jongliert mit Zahlen, damit der Kopf bei den ganzen 42,195 Kilometern mitmacht. „Rechnen Sie wie die Amerikaner und machen Sie sich ihre Masseinheiten zu Nutze – 26 Meilen leiden klingen nach bedeutend weniger als 42 Kilometer!“

(publiziert auf http://www.tagesanzeiger.ch)

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