Eigentlich war ihre Aufenthaltsbewilligung begrenzt. Ihre Galgenfrist hätte nach einer Woche ablaufen sollen. Danach hätte die Sixstar-Medaille der sechs Marathon-Majors eigentlich vom Schlafzimmer zu den übrigen “Plämpu” ins Arbeitszimmer wechseln sollen. Eigentlich. Denn sie hängt knappe zehn Monate später noch immer über dem Bett. Nicht, weil ich zu faul gewesen wäre, sie abzuhängen und an einer anderen Wand festzumachen. Nicht, weil sie besonders zur Möblierung passen würde. Und auch nicht, weil ich mich so an sie gewöhnt habe, dass ich sie da vergessen hätte.
Nein – sie hängt noch da, weil mein Herz immer noch schneller schlägt, wenn ich sie betrachte. Und weil ich ab und an gerne über die einzelnen Stadtsymbole streiche, die einen der sechs Austragungsort darstellen. Weil mein Verdauungsprozess noch nicht abgeschlossen ist – ich kann es heute noch kaum fassen. Zehn Monate ist es her, dass mir der Plämpu in Boston umgehängt wurde – und noch immer frage ich mich manchmal, wie ich das geschafft habe.
Die Medaille erinnert mich an das völlig unerwartete Lauffest in Tokyo nach meinem Autounfall. An die Watsche des Hammermanns in den Strassen Berlins. An etliche Trainingsstunden im Regen. An die tobenden Engländer auf der Tower Bridge. An die drückende Stille auf der New Yorker Queensborobridge. Aber auch an liebgewonnene Menschen, die vermutlich ohne dieses unfassbare Marathon-Abenteuer meinen Weg nie gekreuzt hätten und die wertvollen Helfer in den Stunden des Zweifels.
Ich habe mich zuvor oft ob eines Olympia-Teilnehmers amüsiert, der seine Medaille in seiner Sockenschublade versteckt, damit sie allfällige Einbrecher nicht stibitzen – kostspielige Technik aber in seiner Wohnung herumliegt. Bei einem andern liegt eine Bronzemedaille aus Rio im Kühlschrank, weil da alles liegt, was er nicht verlieren möchte. Der Sieger über die Sprintdistanz von 200 Metern an den Olympischen Spielen in Mexico (1968), liess eine Kopie seiner Goldmedaille erstellen und schloss das Original in einen Safe.
Um Edelmetall laufen Hobbysportler wie ich nicht. Trotzdem können Stücke kommunes Metall, wie sie nach der Ziellinie eines Volkslaufes oder eines Marathons verteilt werden, unglaublich wertvoll sein. Mein Sixstar-Plämpu etwa. Er fungiert als meine ganz persönliche Schatztruhe und hebt meine unbezahlbaren Erinnerungen für mich auf.