Der Höhepunkt ist erreicht: Die Natur atmet aus. Die Farben künden langsam den Herbst an. Das Quecksilber steigt nicht mehr ganz so hoch. Tag für Tag verführen mich die Spätsommerabende zu einem geniesserischen Lauf. Mein Herz tankt und schlägt im Wohlfühlpuls – davon kann ich kaum genug kriegen. Lust pur. Eigentlich hatte mir Lauflegende Markus Ryffel für diesen Tag einen viel schnelleren kürzeren Lauf ans Herz gelegt – Arbeit also. Der Vorsatz war da, die leichten Schuhe geschnürt, die Pulsuhr am Handgelenk – doch war zu bequem, um ihn gegen die hämmernden Schläge eines Herzens auszutauschen, das Schwerarbeit leistet. Mit jeder Minute schwindet der Vorsatz – bis zur Unkenntlichkeit.

Ich laufe Kilometer für Kilometer mit ruhigem Gewissen – schliesslich trainiere ich. „Mit dem Lustprinzip erreichen Sie kein ambitioniertes Ziel“, warnt mich Ryffel. An einem Trainingsplan führe dann nichts vorbei. Helvetier seien regelrechte Planungsgenies. „Wir organisieren unseren Arbeitsalltag, unsere Ferien und unsere Freizeit – beim Sport wählen wir zu oft die „Wenn-ich-Lust-habe-Option“.“ Je nach sportlicher Vergangenheit wolle ein Abenteuer wie der Marathon im Big Apple ein bis zwei Jahre im Voraus geplant sein. Ryffel gibt mir zu verstehen: „Und mit Wohlfühlläufen alleine ist es nicht getan.“
Mit der Erholung kommt der Fortschritt
In einen Marathontrainingsplan gehören nicht nur die lustvollen langen Ausdauerläufe mit Wohlfühlpuls. Die anderen vier Konditionsfaktoren Kraft, Koordination, Schnelligkeit und Beweglichkeit sind ebenso wichtige Werkzeuge, die ich meinem Körper in New York zur Verfügung stellen muss. Während mir die Flimmerkiste die Zeit bei den Kraft-, Koordination und Beweglichkeitsübungen verkürzen – kneife ich immer wieder bei den Tempoläufen. „Verschiedene Reize fordern Ihre Mukis – nur mit der folgenden muskulären Erholung machen sie die gewünschten Fortschritte.“, versucht mich Ryffel zur Vernunft zu bringen. Gedanklich rebelliere ich.

Planen – und wo bitte bleibt da die Lust? Der einstige Olympionike führt ein weiteres Argument ins Feld: „Mental ist ein solcher Lauf sehr wertvoll – dabei geht es ums Beissen.“ Hier sind wir wieder – meine Schwäche. Er gewinnt damit zumindest mal meine Aufmerksamkeit. Seine Rechnung ist einfach: Erreiche ich in New York den zehnten Kilometer nach 59 Minuten im Wissen, dass ich dieselbe Distanz in 48 Minuten oder aber in 53 Minuten zurück legen kann, ist dies in mentaler Hinsicht ein grosser Unterschied. „Das Wissen um die eigenen Reserven ist dann vor allem während der letzten Kilometern wichtig.“
Ehrgeiz mit dem Sicherheitsnadeln anstacheln
Ryffel empfiehlt mir mit einer Startnummer gegen die Unlust an kürzeren, schnelleren Läufen anzukämpfen. Ich nutzte die Gelegenheit und sagte am Media Markt Muri Marathon der 10.62 Kilometerdistanz den Kampf an. Es schien, als ob jede der vier Sicherheitsnadeln, die meine Startnummer befestigten, meinen Ehrgeiz anstacheln würde. Mit jeder verstreichenden Minute wuchs vor dem Start meine Ungeduld. Ich freute mich darauf, meinen Trainingsstand zu entdecken und dafür zu beissen. Ich forderte mich, Kilometer für Kilometer und dies taten auch die übrigen Teilnehmer und ein plötzliches Seitenstechen.

Die hämmernden Schritte eines Konkurrenten hinter mir trieben mich voran, während der Schmerz mich mental immer von Neuem vor die Entscheidung stellte: Aufhören, langsamer laufen oder ignorieren. Wenn es schon um die mentale Widerstandskraft geht, dann richtig – warum also das Tempo drosseln oder gar aufhören? Ich biss – 51.28 lange Minuten.
Mit dem Gedanken „bei diesem einen Mal wird es bleiben“ rettete ich mich ins Ziel. Doch während der Puls sank, wuchs der Stolz – und der verlangte nach mehr. Auf der Heimreise durchstöberte ich das Internet bereits nach den nächsten Gelegenheiten, meinen inneren Schweinehund wieder mit Sicherheitsnadeln und einer Startnummer zu besiegen. Lust ist also planbar!
