5 Tage, 1950 Höhenmeter und 1 kleine Journalistin

Fünf Tage, fünf Oberländer Gipfel, 22,1 Kilometer, 1950 Höhenmeter – das sind die stolzen Masse des 5-Tage Berglauf-Cups. 177 Läufer treten bei allen fünf Etappen an, 53 begnügen sich mit einzelnen Etappen – so auch Lauflegende Markus Ryffel.

Etappe 1:
Kurz vor dem Start schliesst Petrus die Himmelschleusen und gibt den Blick auf die Alpen frei. Stolz erhebt sich die Rigi am Horizont. 1797.5 Meter hoch – die einschüchternde Königin der Berge. „Ich muss in einer Woche höher hinauf als dieser Gipfel…“, schiesst es mir durch den Kopf. 163 Zentimeter-klein und kriegerisch stehe ich am Start, gewillt die Gipfel zu bodigen – wie einst Napoleon Bonaparte wild entschlossen war den belgischen Ort Waterloo zu erobern.

Am ersten Tag steht der Farner ob Wald auf dem Programm. Um mich herum versammeln sich drahtige Männer und hagere Frauen. Die Läuferinnen sind entweder bedeutend jünger oder aber älter als ich. Ich ahne schlimmes… während erstere vor Kraft strotzen sind letztere ausdauernder als Duracell-Häschen. Es geht los – die Menge zieht der Walder Bahnhofstrasse entlang davon. Schnell bilde ich eines der Schlusslichter. „Unmöglich!“ Ein Teufel reitet mich und schwingt seine Peitsche, während die Vernunft ihm die Stirn bietet und mich am kurzen Zügel hält. Es geht Richtung Zürcher Höhenklinik in den ersten Hang. Die Schritte werden langsamer, der Atem schneller. „Um zehn wird’s dunkel“, gibt mir ein Schaulustiger zu bedenken. Ich beisse auf die Zähne. Vorbei am Aussichtsrestaurant neben dem einstigen Sanatorium. Sein Name „Lauf“ erscheint mir, wie ein höhnischer Ansporn.

Ich kämpfe und erreiche erleichtert ein flaches Stück – das letzte, wie ich später feststellen sollte. Fast automatisch holen meine Beine aus, sie wecken meine Zuversicht. Doch sie ist von kurzer Dauer. Und schon erhebt sich der nächste steile Hügel vor mir. „Das ist erst der Anfang“, warnt mich ein Läufer. Er versucht mich in ein Gespräch zu verwickeln. Doch während ich vor einigen Minuten Haupt- und Nebensätze von mir geben konnte, reicht jetzt mein Atem nicht mehr für höfliche Einschübe. Der vierten Kilometer. Marschiere. Keuchend verfluche ich meine Streitlust und fürchte, dass diese Hügel mein Waterloo sein werden.

Reden liegt nicht drin. Längst nicht mehr. Geradeaus laufen gelingt mir gerade noch – einen geraden Satz denken, wird zu einer wahren Herausforderung. Ryffel trabt locker neben mir: „Wenn sich die Gedanken, wie auf einer Achterbahn befinden, ist das normal.“ Und schon kommen mir die ersten Läufer mit einem für mich widerlich anmutenden zufriedenen Gesichtsausdruck entgegen – purer Neid mischt sich unter die Frage: „Warum?“ Zum Weiterdenken reicht die Energie nicht. Der Zusatz – „tue ich mir das an“, habe ich nie zu Ende gedacht, denn im Ziel auf der 1155 Meter hohen Farner Alp hatte ihn die Euphorie überholt.

Etappe 2:
„Waterloo – finally facing my waterloo!“ Was für ein symbolträchtiger Empfang bescherte mir der Skiclub am Bachtel, Veranstalter des 5-Tage Berglauf-Cups, in Bauma. Meine Muskeln sind noch sauer – sie haben die gestrige Anstrengung noch nicht verdaut und speisen meine Zweifel. Und als ob der Veranstalter meine Zweifel kennen würde – schmettert die schwedische Gruppe Abba beim Start der zweiten Etappe, Napoleons Niedergang aus den Lautsprechern. Der Sunehof, das zweite Etappenziel ist 4.3 Kilometer entfernt – machbar, wenn da nicht die 310 Höhenmeter wären. Doch nach den gestrigen 5.1 Kilometer und 535 Höhenmeter stimmen mich die Masse meines heutigen Gegners übermütig. Was konnte der Sunehof gegen die Farner Alp sein? Die Namen nährten meinen Hochmut: Nasenwasser! Zuversichtlich stelle ich mich neben Christoph Menzi, dem Viertplatzierten der gestrigen Etappe ein. Es geht los – wie ein kleiner Kriegsherr, beobachte ich die Läuferschar und lasse die Menge an mir vorbei. Diese Taktik hatte einen Tag zuvor bestens funktioniert – von hinten angreifen. Heute gehts gleich zur Sache. In den ersten Metern fordert die Steigung bereits ihre ersten Opfer – ich kämpfe.

Würde ich denselben Schwächen erlegen, wie einst der berühmte französische Herrscher in Belgien? Würde mich mein übersteigertes Selbstbewusstsein meinen Gegner – diesen Hügel – unterschätzen lassen? Ich drossle mein Tempo – so leicht werde ich mich nicht geschlagen geben. Während am Horizont Menzi um die Kurve fliegt, melden sich meine sauren Muskeln. „Hochmut kommt vor dem Fall“, fährt es mir durch den Kopf. Am Wegrand ignoriert ein Dreikäsehoch kulant meinen roten Kopf und schreit sich „Hopp schneller!“ aus der Lunge. Glücklicherweise ist das Höhenprofil dieser Etappe gnädiger, immer wieder lassen mich flache Wegstücke zu Atem kommen. Und diesmal werde ich nicht von den sehnigen Läufern nach hinten durchgereicht.

Das Ziel im Blick hole ich noch die letzten Kräfte aus meinen müden Beinen. Und wenn gestern der Name des Restaurants „Lauf“ einen höhnisch-bitteren Geschmack hinterliess – beflügelte mich das freundlich anmutende Wort „Sunehof“ auf dem Wirtshausschild auf den letzten Metern. Rund 30 Minuten nach dem Start wallt das Adrenalin in meinen Adern – zwei Höhepunkte in 48 Stunden…

Etappe 3:
Nur noch wenige Schritte. Das Ziel auf dem Gipfel des Hörnli ob Steg im Tösstal ist in Sichtweite. Fünf Kilometer, nahezu 430 Höhenmeter und damit die dritte Etappe des 5-Tage-Berglauf-Cups liegen hinter mir. Ich rutsche in einer Schlammpfütze aus, meine müden Beine versagen ihren Dienst. Ich falle, schlage meine Knie auf. Die Läufer, an denen ich eben noch vorbeizog, laufen an mir vorbei ins Ziel.

Mühsam rapple ich mich auf, rutsche, falle wieder hin. Auf allen Vieren blicke ich hoch – nur noch wenige Meter. Ich mobilisiere meine letzten Energiereserven, raffe mich ein letztes Mal auf. Komme hoch, rutsche mit dem nächsten Schritt wieder in der Pfütze aus – vorbei. Wenn eine Glocke einen Boxer K. o. schimpft, tut dies bei mir ein nervtötendes Pfeifen. Es gibt mir den Rest.

Ich bin schweissgebadet – knie aber nicht wenige Meter vor dem Ziel im Schlamm, sondern liege zu Hause in meinem Bett. An kaum einem Morgen klang das Läuten meines Weckers so süss, wie am Morgen der dritten Etappe. Gerädert schäle ich mich aus der warmen Decke. Meine kalten Muskeln drohen mit Streik. Das Bild des Ziels und dieser Schlammpfütze hat sich in meinem Hirn eingebrannt. Wie ein geschlagener Hund schleppe ich mich in den Tag. Heute gilt es mentale Stärke zu beweisen. 

Nicht der Lauf ins Ziel, sondern der Gang an den Start ist meine Herausforderung. Der Chip für die Zeitmessung wiegt schwer an meinem Knöchel. «Ah, du bist die Pia von der Zeitung», empfängt mich eine durchtrainierte Läuferin. Ertappt. Kneifen ist nicht mehr drin. Die Masse 5,1 Kilometer und 435 Höhenmeter der dritten Etappe sind längst nicht die einschüchterndsten in meinem fünftägigen Qualprogramm – vor dem Start scheint mir das Hörnli aber unüberwindbar zu sein. Und das alles nur wegen dieser Traumpfütze.

Es geht los, und je näher das Ziel kommt, desto weiter weg wünsche ich mich selbst. Die letzten 100 Meter erinnern mich an die Eigernordwand. Keine Chance, einen Blick auf das Ziel zu erhaschen – hat es dort oben tatsächlich eine Wasserpfütze? Das Wort Waterloo erhält in diesen Sekunden eine ganz neue Bedeutung… Ein Junge zieht an mir vorbei – bewundernd schaue ich ihm nach, ziehe innerlich den Hut, laufe und vergesse. Doch im Ziel komme ich nicht umhin, einen Blick zurück zu werfen – der Boden ist trocken.

Etappe 4:
Der Bachtel steht bei der vierten Etappe des Berglauf-Cups auf dem Programm. Mit 3,6 Kilometer eine der kürzeren Strecken, die 375 Höhenmeter ergeben aber eine Steigung von 10 Prozent – ein zäher Brocken also. Der Junge von gestern strahlt mich beim Start an – er schlägt ein. „Ich will mich auch heute nicht blamieren.“ Lässt er mich wissen, ohne zu wissen, dass er mich gestern ins Ziel rettete. Nahezu 20 Prozent Steigung ist das letzte Stück – nach rund 28 Minuten keuche ich durchs Ziel, um dort fest zu stellen, dass ich meinen Chip für die Zeitmessung beim Start nie abgeholt habe… Glücklicherweise bezeugen die zahlreichen Vorläufer, meine Ankunft beim Bachtelturm.

Nach dieser vierten Etappe habe ich nun 18,4 Kilometer in den Beinen. Für mich ist die Zahl 1650 aber einiges eindrücklicher. Soviele Höhenmeter habe ich insgesamt überwunden. Ich bin also theoretisch noch läppische 147 Meter Steigung vom Gipfel der Rigi entfernt. Dies trifft auch auf den Greifenseer Stephan Wenk zu. Ein wahrer Gipfelstürmer, der seit Montag keine Zweifel aufkommen lässt: Er ist in seinem Element. Allen vier Etappen des 5-Tage Berglauf-Cup hat er seinen Stempel aufgedrückt und führt deutlich in der Gesamtwertung des Cups.

Nur eine Etappe trennt Wenk und mich noch vom fünften und letzten Ziel: Es ist Zeit für einen direkten Vergleich: Die 18,4 Kilometer und 1650 Höhenmeter der vier vergangenen Etappen habe ich in 2 Stunden 20 Minuten zurück gelegt. Diese drei Zahlen wecken einen gewissen Stolz in mir. Während Kollegen mir den Bergflohpreis verleihen wollen, kröne ich mich zur «kleinen Bergkönigin».

Wenk dürfte indessen für meine Laufzeit ein schwaches Lächeln übrig haben. Er schaffte dieselbe Distanz und gleichviele Höhenmeter in – mein Atem stockte beim rechnen und tut es beim schreiben wieder – 1 Stunde 19 Minuten. 1 Stunden und 1 Minute schneller als ich. Somit könnte der Greifenseer am Samstag und am Sonntag gleich nochmals die strengste der Etappen – von Wald auf die Farner Alp –  zurücklegen und wäre damit immer noch um rund 10 Minuten schneller – gedanklich gebe ich die eben aufgesetzte Krone bescheiden weiter. Der Bergfloh passt wohl besser zu mir.

Etappe 5:
Die fünf Gipfel des 5-Tage-Berglauf-Cups: mein persönliches Waterloo. Eine Kampfansage an Strecken mit Höhenmetern, die meine Waden bisher nicht kannten. Wie einst Napoleon Bonaparte mit übersteigertem Selbstbewusstsein seine Gegner vor dem belgischen Dorf Waterloo verkannte – so kam ich mir in der vergangenen Woche vor.

Ein kleiner Kriegsherr vor grossen Gegnern, die er unterschätzte und die ihm den Meister zeigten. Unsicher – ob ich mit den 23,3 Kilometern und 1950 Höhenmetern von meinem Körper neben dem Berufsalltag nicht zu viel erwartet hatte. Vermutlich ist es tatsächlich so: Am Morgen vor dieser letzten Etappe schienen meine Wadenmuskeln denn auch über Nacht eingegangen zu sein.

Die fünf Etappen bewiesen mir, dass ein Hobbysportler meines Kalibers einen solchen Kampf nicht alleine gewinnen kann. Und vielleicht habe ich Oberländer Bergfloh im entscheidenden Gefecht etwas besser gemacht als der französische Imperator: Ich gewann in meiner Schlacht die Unterstützung etlicher Mitstreiter. Tag für Tag zogen wir gemeinsam gegen die Hügel ins Feld. So läuft Hans vor mir, Strecke für Strecke, seit der ersten Etappe. «Hab den Mut, auch mal zu gehen», hat er mir am Fusse des Bachtels mit auf den Weg gegeben – und nur weil ich dies auch tat, schaffte ich die steilen letzten Meter zum Ziel.

Oder Yuri, der Junge vom Hörnli. Er liess mich vor dem Ziel jenen Albtraum vergessen, der meine mentale Stärke lädiert hatte, als er in eindrücklicher Geschwindigkeit an mir vorbei ins Ziel lief (Etappe 3). Und da war noch Harry, der wegen einer Wette am zweiten Tag eine Schubkarre den Berg hochschob und versprach: «Wenn du am Schluss nicht mehr kannst, fahr ich dich die letzten Meter hoch.»

Die anfängliche Leidensgemeinschaft mauserte sich zur familiären Mitstreitertruppe. Sie lässt mich auf den letzten Metern hinauf zum Ebnerberg vergessen, dass meine Kraft erschöpft ist. Und oben angelangt, summe ich statt des Abba-Ohrwurms «Waterloo», die Melodie von «The Winner Takes It All». Dauer des Abenteuers: 2 Stunden 52 Minuten. Zum Vergleich: Sieger Stephan Wenk benötigte 1 Stunde 38 Minuten.

(publiziert auf http://www.tages-anzeiger.ch)

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